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Channel: Bernward Vesper – Schröder & Kalender
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Müllstück (1)

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Der Bär flattert leicht in östlicher Richtung.
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Aus gegebenem Anlass, morgen wird in Mülheim ›Der Müll, die Stadt und der Tod‹ von Rainer Werner Fassbinder aufgeführt, erzählen wir in unserem Blog die Geschichte der ›Notausgabe‹ im eigens dafür gegründeten April, April! Verlag:

Es fing mit der falschen Entscheidung an, die eigentlich eine richtige war, uns in die Kontroverse wegen Fassbinders ›Der Müll, die Stadt und der Tod‹ einzumischen. Bereits Ende Oktober 1985 hatten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zusammen mit ihrem Vorstand Ignatz Bubis die Uraufführung des ›Müllstück‹s in den Frankfurter Kammerspielen verhindert, weil darin das Klischee vom ›reichen Juden‹ kolportiert wird.

Anschließend retteten sich der Intendant Günther Rühle und der Kulturdezernent Hilmar Hoffmann mit einer juristischen Finte in die neutrale Ecke: Sie ließen das Stück als sogenannte ›Wiederholungsprobe‹ aufführen, die nicht öffentlich war und nur mit einer Pressekarte ausgestatteten Kritikern den Eintritt erlaubte. Danach zog der Intendant das Stück ›vorläufig‹ zurück, woraufhin Karlheinz Braun, der Geschäftsführer des Frankfurter Verlags der Autoren und Inhaber der Verlagsrechte, erklärte, er betrachte die ›Wiederholungsprobe‹ als Uraufführung.

Hintergrund dieser für juristische Laien verwirrenden semantischen Spitzfindigkeiten: Erst nach einer Uraufführung, der Premiere, kann ein Stück auf anderen Bühnen nachgespielt werden. Und hier liegt der Hase im Pfeffer: Der Verlag der Autoren wollte das skandalisierte Stück ohne Rücksicht auf die Proteste durchsetzen. Jetzt war nicht nur von Frankfurt die Rede, sondern von Aufführungen weltweit. So sah es Anfang Januar 1986 aus, das kulturpolitische Skandalon sorgte für Schlagzeilen, nur vergleichbar mit der ›Spiegel‹-Affäre, der Ausspähung und dem Rücktritt von Bundeskanzler Brandt, den Flick-Parteispendenprozessen oder eben Kanzler Kohls schwarzen Konten.

Man fragt sich zu Recht, warum ausgerechnet der März Verlag in diese Sache verwickelt wurde, schließlich hatten wir anfänglich nichts damit zu tun. Und auch wir hielten zunächst den Bubis-Protest für eine Überreaktion und waren wie fast alle Intellektuellen der Meinung: Dieses Stück muß aufgeführt werden nach dem Motto: Die Kunst ist frei, eine Zensur findet nicht statt. Wir wußten, dass Gerhard Zwerenz mit Fassbinder befreundet gewesen war und nicht nur in seiner ›Alexanderplatz‹-Verfilmung, sondern auch in anderen Fassbinder-Filmen mitgespielt hatte. Er schrieb auch einen Roman nach dem Film ›Die Ehe der Maria Braun‹, den der ›Stern‹ abdruckte. Was nun das ›Müllstück‹ angeht, wußten wir: Fassbinder wollte den Zwerenz-Roman ›Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond‹ verfilmen, dieses Vorhaben lehnte die Filmförderungsanstalt jedoch ab. Auch eine Dramatisierung des Stoffs durch Fassbinders Schauspielkollektiv scheiterte, daraufhin schrieb er eine eigene Bearbeitung, eben das ›Müllstück‹. Sofort gab es im Römer Proteste, und Fassbinder kündigte kurz darauf am Frankfurter Theater am Turm. Danach erschien das Stück bei Suhrkamp und wurde nach Polemiken von Helmut Schmitz in der ›Frankfurter Rundschau‹ und Joachim Fest in der ›Frankfurter Allgemeinen‹ vom Suhrkamp Verlag zurückgezogen. Wir wußten also ziemlich viel, hatten das Stück aber nicht gelesen, auch den Roman von Zwerenz nicht.

Es ist ja eine weitverbreitete schlechte Angewohnheit von Leuten, die in der Literatursuppe rühren, über Bücher zu reden, die sie nicht gelesen haben, aber irgendwie doch zu kennen glauben. Da sprießen exquisite Stilblüten, wenn zum Beispiel Marcel Reich-Ranicki im ›Literarischen Quartett‹ über Bernward Vespers ›Reise‹, tönte: »Na ja, schon literarisch sehr schwach, der Vesper, glaube ich. Ein Zeitdokument, ja gewiß.« Eben: Glaube ich! Keine Zeile von der ›Reise‹  hatte der Quasselkopp gelesen! Und so ging es mir bei Fassbinders Stück und Zwerenz’ Roman. Ich wußte, genau gesagt, nichts Genaues, hatte aber eine Meinung.

Da geschah etwas Banales, das unser vorgefertigtes Urteil ins Wanken brachte. Barbara kam vom Einkauf im Dorfladen nach Hause, den führte die wortkarge Frau Klein. Ihr gehörte auch die danebenliegende Kneipe, in der Horst Tomayer als Betriebsprüfer sein Bier trank; dieses maulfaule Mensch schmiss fast eine Szene im ›März-Akte‹-Film, das ist so schön peinlich! Tomayer redete auf sie ein, und die stand hinter ihrer Theke still wie ein Stein. Ein grandioser Dialog, bei dem diese Wirtin fast nur »hmmm« sagte. Dieser zustimmende Laut ist bekanntlich modulationsfähig, die größte Bandbreite hörten wir eines Morgens in Bayern, wir lagen noch im Bett. Der Bayerische Rundfunk dudelte weckdienstmäßig ins Halbbewußte, zwischen der Muzak liefen die Berichte vom Tage. Diesmal hatte eine Moderatorin Eltern aufgefordert, beim Sender anzurufen, damit deren Kinder etwas über den ersten Schultag nach den Ferien erzählen. Die Musik wurde runtergezogen, die Frauenstimme fragte: »Na, wie heißt du denn, und wie war dein erster Schultag gestern?« Eine helle Stimme antwortete:

»Gefällt es dir, dass die Schule wieder losgeht? Und wie heißt du?« »Hmmhiiimm.« Die Radiotante wurde unruhig: »Wer ist denn dran?« »Hmmhiiimm.« Dann wieder die Frau vom Bayerischen Rundfunk, schon ziemlich aufgeregt: »Willst du uns nicht etwas von deinem ersten Schultag erzählen? Oder sind Sie etwa die Mutter? Muß ich Sie sagen oder kann ich du sagen?« »Hmmhiiimm«, war die Antwort. Nun fragte die Moderatorin verzweifelt nach dem Alter, und tatsächlich piepste diesmal eine Kinderstimme wie aus der Pistole geschossen: »Sieben Jahre!« Aber danach ging es minutenlang weiter mit »Hmmhiiimm«. Allerdings konnte man der Modulation genauestens entnehmen, welche Erlebnisse auf den siebenjährigen Knaben gut oder weniger gut gewirkt hatten. Im Grunde war das Kind ein Tier, unser Hund Marron machte sich genauso verständlich. Nein, unser Hund war sprachbegabter!
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Aus dem Laden der einsilbigen Kaufmannsfrau kam nun Barbara aufgeregt zurück und erzählte: »Stell dir vor, diese Klein, die sonst die Zähne nicht auseinander kriegt, quasselt plötzlich wie ein Wasserfall mit einer anderen Frau, und die ›Bild‹-Zeitung liegt dabei auf dem Ladentisch. ›Ei, wo komme mir dann do hie, dass die ons jetz e Deadersteck verbiede wolle?! Also dos geht wekklich zu weiht! So ebbes konne mir ons net gefalle geloß! Gelle, die sei doch alle Spekulande, die Judde!‹ Und die andere Dorffrau legte los: ›No kloar, die verdiene sich bei ons domm on dämlich, on dos alles uff onser Koste! Jo, dos gläb ich, dass die net wolle, dass dos Steck gezeicht werd, weil es jo die Woarheit iss iber dos Back! On da steht’s doch aach ganz genau‹, sie las aus der ›Bild‹-Zeitung das Zitat vor: ‚Er saugt uns aus, der Jud. Trinkt unser Blut und setzt uns ins Unrecht, weil er Jud ist und wir die Schuld tragen.‘ ›Dodebei ho die doch sälber Schold gehatt! Dass die scho wieder sovill Ifluß ho und das Steck verbiede wolle, dodro seat mer jo, dass es scho wieder vill zuvill vo dane gitt!‹ Jörg, ich bin rausgegangen, so fertig war ich, habe nichts gekauft. Diese Frau Klein hat sich doch noch nie fürs Theater interessiert, die hat noch kein Theater von innen gesehen, die kommt aus Schlechtenwegen gar nicht raus. Und jetzt ist dieses ›Müllstück‹ für sie der Anlaß, solche Hetztiraden abzulassen. Die ganze braune Scheiße kommt wieder hoch! Wahrscheinlich ist das überall so. Und deshalb ich bin jetzt auch gegen die Aufführung.«

Schlagartig war uns klargeworden: In der Sache geht es nicht um die besondere Empfindlichkeit der Juden oder die Freiheit der Kunst. Vielmehr hatte Fassbinders Schlagwort vom ›reichen Juden‹ einen antisemitischen Flächenbrand von links bis rechts ausgelöst. Der Theaterkritiker Peter Iden schwadronierte in der linken ›Frankfurter Rundschau‹ vom »jüdischen Kapital«. Joachim Fests Polemik gegen einen »linken Antisemitismus« war offenbar doch nicht so haltlos gewesen, wie ich mir das gewünscht hatte. Und natürlich flog der Deckel auch rechts vom Topf: Wilderich Freiherr von Mirbach Graf Spee, der CDU-Bürgermeister von Korschenbroich, bemerkte launig: Er müsse »wohl einige reiche Juden erschlagen, um den Haushalt seiner Gemeinde auszugleichen«. Der CSU-Abgeordnete Hermann Fellner zieh die Juden der Geldgier, weil sie Entschädigungen für die Zwangsarbeiter des Deutschen Reiches forderten. Das war eine Zäsur, eine Tendenzwende von Peter Iden über den Grafen Spee bis zur maulfaulen Kaufmannsfrau in Schlechtenwegen. Jetzt war Schluß mit intellektuellen Spitzfindigkeiten, jetzt mußte Farbe bekannt werden.

(Fortsetzung folgt)

Gerhard Zwerenz’ Sicht der Dinge kann man im Poetenladen lesen.

(BK / JS)


Deutsche Weihnacht (1)

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Der Bär flattert in nördlicher Richtung.
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1977, während der Redaktion des nachgelassenen, unvollendeten Manuskripts der ›Reise‹, haben mich Bernward Vespers Erzählungen über die »Kindheitshölle« besonders beeindruckt, darunter vor allem seine Weihnachtsgeschichte. Alle, denen der Suhrkamp Verlag gegenwärtig die Korrespondenz zwischen Gudrun Ensslin und Bernward Vesper über die Zukunft ihres gemeinsamen Sohnes als »tragischen Liebes-Brief-Roman« anzudrehen versucht, sollten besser the real stuff lesen, den Peter Weiss zu Recht zum »intellektuellen Höhepunkt der Bewegung des Jahres 68« deklarierte.

(JS)

Wir drucken die Weihnachtsgeschichte aus der Reise in drei Fortsetzungen ab.
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Fortsetzung folgt

Aus: Bernward Vesper, ›Die Reise‹, Romanessay. Nach dem unvollendeten Manuskript herausgegeben von Jörg Schröder.
Erste Ausgabe: 568 Seiten, März Verlag, 1977.
Ausgabe letzter Hand: 710 Seiten, März Verlag, 1979.
Neuausgabe: 714 Seiten, März Verlag, 2005.

(BV / BK / JS)

Deutsche Weihnacht (2)

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Der Bär flattert in östlicher Richtung.
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1977, während der Redaktion des nachgelassenen, unvollendeten Manuskripts der ›Reise‹, haben mich Bernward Vespers Erzählungen über die »Kindheitshölle« besonders beeindruckt, darunter vor allem seine Weihnachtsgeschichte. Alle, denen der Suhrkamp Verlag gegenwärtig die Korrespondenz zwischen Gudrun Ensslin und Bernward Vesper über die Zukunft ihres gemeinsamen Sohnes als »tragischen Liebes-Brief-Roman« anzudrehen versucht, sollten besser the real stuff lesen, den Peter Weiss zu Recht zum »intellektuellen Höhepunkt der Bewegung des Jahres 68« deklarierte.

(JS)

Wir drucken die Weihnachtsgeschichte aus der ›Reise‹ in drei Fortsetzungen ab.

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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag

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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag

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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag

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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Fortsetzung folgt

Aus: Bernward Vesper, ›Die Reise‹, Romanessay. Nach dem unvollendeten Manuskript herausgegeben von Jörg Schröder.
Erste Ausgabe: 568 Seiten, März Verlag, 1977.
Ausgabe letzter Hand: 710 Seiten, März Verlag, 1979.
Neuausgabe: 714 Seiten, März Verlag, 2005.

(BV / BK / JS)

Deutsche Weihnacht (3)

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Der Bär flattert in östlicher Richtung.
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1977, während der Redaktion des nachgelassenen, unvollendeten Manuskripts der ›Reise‹, haben mich Bernward Vespers Erzählungen über die »Kindheitshölle« besonders beeindruckt, darunter vor allem seine Weihnachtsgeschichte. Alle, denen der Suhrkamp Verlag gegenwärtig die Korrespondenz zwischen Gudrun Ensslin und Bernward Vesper über die Zukunft ihres gemeinsamen Sohnes als »tragischen Liebes-Brief-Roman« anzudrehen versucht, sollten besser the real stuff lesen, den Peter Weiss zu Recht zum »intellektuellen Höhepunkt der Bewegung des Jahres 68« deklarierte.

(JS)

Wir drucken die Weihnachtsgeschichte aus der ›Reise‹ in drei Fortsetzungen ab.
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Nur

Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag

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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag
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Aus: Bernward Vesper, ›Die Reise‹, Romanessay. Nach dem unvollendeten Manuskript herausgegeben von Jörg Schröder.
Erste Ausgabe: 568 Seiten, März Verlag, 1977.
Ausgabe letzter Hand: 710 Seiten, März Verlag, 1979.
Neuausgabe: 714 Seiten, März Verlag, 2005.

(BV / BK / JS)

Berlinale: Die Urszenen der RAF als Seifenoper

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Der Bär flattert in östlicher Richtung.
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Wie gemeldet, wurde der Film ›Wer, wenn nicht wir‹ von Andres Veiel für den Wettbewerb der diesjährigen Berlinale nominiert. Angeblich erzählt der Film die wahre Liebesgeschichte von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper, die angeblich an Gudrun Ensslins politischer Radikalisierung scheiterte, so propagiert die Produktion Zero One den Film.

Bekanntlich scheiterte die Beziehung Ensslin-Vesper jedoch daran, dass Gudrun Ensslin sich in Andreas Baader verliebte und Vesper verließ. Der Regisseur Veiel will aber dem Publikum die Urszenen der RAF als ›Tristan und Isolde‹-Seifenoper andrehen. Das ist sein gutes Recht als Regisseur, jeder so gut er kann. Fest steht, dass sich Gudrun Ensslin und Bernward Vesper im Grabe herumdrehen würden, wenn sie erführen, wie hier mit ihren Biographien umgesprungen wird.

Hinzu kommt, dass Veiel nach eigener Aussage den Autor Vesper so darstellt: »Bernward Vesper rebellierte gegen den Nazivater und blieb dessen Gedankenwelt doch immer verbunden … Diese Schizophrenie pflanzt sich in der Geschichte des Protests und der RAF fort: in einer Kontinuität des soldatischen oder auch des Antisemitismus und Antizionismus der Linken.« (Der Spiegel vom 09.08.2004)
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Als März-Verleger und Herausgeber der ›Reise‹ finde ich es empörend, dass solchen Klitterungen nun auch noch ein silberner Bär winkt. Denn kein Leser der ›Reise‹ würde Bernward Vesper je vorwerfen, er habe etwas verschweigen wollen. Das Gegenteil ist der Fall. In seinen nachgelassenen Schriften im Anhang zu der ›Reise‹ notierte Vesper: »Die Schonung, die man sich gewährt, gewährt man in Wahrheit den gesellschaftlichen Verhältnissen.« Dieser schonungslosen Unbedingtheit fiel der Autor schließlich selbst zum Opfer, er schied 1971 freiwillig aus dem Leben.

Um Missverständnissen vorzubeugen und als Antwort auf zahlreiche Fragen: Die Zero One Filmproduktion und Andres Veiel haben die Verfilmungsrechte an Gerd Koenens Buch ›Vesper, Ensslin, Baader‹ vom Verlag Kiepenheuer & Witsch erworben, einem Unternehmen des Holtzbrinck Konzerns. Für ›Die Reise‹, die im März Verlag erschien, wurden keine Rechte angefragt. Bei Veiels Film handelt es sich demgemäß um eine Adaption tendenziöser Sekundärliteratur und nicht um die Verfilmung des Lebensbildes von Bernward Vesper, wie er es im Primärtext der ›Reise‹ selbst beschrieben hat.

(JS)

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Viel Falsches bei Veiel

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Es ist neblig, wir sehen nicht, wie der Bär flattert.
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Bereits vor der Berlinale distanzierten wir uns als Verleger und Herausgeber ›Der Reise‹ von Andres Veiels Film ›Wer wenn nicht wir‹ und zwar mit der Begründung, dass es sich dabei um eine Adaption von Koenens Buch ›Vesper, Ensslin, Baader‹ handelt, also um eine Adaption tendenziöser Sekundärliteratur.

Jetzt haben wir den Film gesehen, es ist noch schlimmer gekommen! Andres Veiel hat Dokumentarisches und Fiktionales, dem jede innere und äußere Wahrheit fehlt, zusammengerührt. Ein paar Beispiele: In der Berghütte ihrer Familie zerschlägt Gudrun Ensslin ein Glas und setzt sich mit dem nackten Hintern in die Scherben. Bernward Vesper rettet sie aus dem Wald, wohin sie sich geflüchtet hat. Diese von Lars von Trier schlecht geklaute Szene hat es in der Realität nie gegeben. Auch besaß die Pfarrersfamilie keine Berghütte, und die Ensslins waren auch keine pietistischen Spießer, die in Muffmöbeln wohnten. Der Vater Ensslin malte, trank gern und verstand sich als Künstler.

Auch hat Bernward Vesper sich im Gutshaus Triangel nie das Leben nehmen wollen. Im Film versucht er das in Veielscher Symbolik: Seine Mutter zieht den erwachsenen Sohn aus der Badewanne (!), und der rollt sich anschließend in seinem Kindbett zusammen. Bullshit!

Schließlich der böse Verleger Schröder: Das Weichei Bernward Vesper bietet ihm das Manuskript der ›Reise‹ an, und der flapsige Verleger meint: »Das interessiert doch keine Sau!« In Wahrheit nahm der März Verleger, also ich, Vespers Manuskript an, zahlte dem Autor 12.000,- DM Vorschuß, arbeitete, nach Vespers Freitot ein Jahr an dem Manuskript und gab ›Die Reise‹ postum heraus.

Ach, wenn diese geklitterte Schmonzette wenigstens spannend wäre! Es kam  nur ein langweiliger und ängstlicher Streifen dabei heraus. Wenn dieses Machwerk einen Bären gewinnt, fallen wir vom Glauben ab.

(BK / JS)

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Papa hat mich immer verstanden

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Der Bär flattert in nördlicher Richtung.
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Es war zu erwarten. Nach dem mißverständlichen und tendenziös falschen Film ›Wer wenn nicht wir‹ von Andres Veiel melden sich nun die Nazitanten aus Ochsenhausen, mit denen Bernward Vesper als junger Mann im Geiste seines Vaters korrespondierte.


Leserbrief in der FAZ vom 24. Februar 2011

Wahr daran ist, dass Bernward Vesper einen Romanessay von 600 Seiten hinterließ, nämlich ›Die Reise‹, und einen Zettelkasten mit 300 Notaten, die im Anhang der ›Reise‹ abgedruckt sind. Sein Buch handelt in großen Teilen von der filizidalen Indoktrination durch das tiefbraune Elternhaus. Und es handelt davon, wie sein Autor sich an den eigenen Haaren selbst aus dem braunen Sumpf zog  und schließlich an seiner Unbedingtheit zerbrach.

(BK / JS)

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Vulgärpsychologie

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Es ist dunkel, wir sehen nicht, wie der Bär flattert.
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Als hätte es keinen Vietnamkrieg gegeben, kein My Lai, kein Napalm und kein Agent Orange, gründelt Andres Veiel in seinem Film ›Wer, wenn nicht wir‹ in den Szenen eines verschlungenen Familienromans, der im Pfarrhaus der Ensslins und in Bernward Vespers elterlichen Gutshaus spielt. Dort sucht er nach der Motivation des bewaffneten Kampfes der RAF. Also Vulgärpsychologie at its best, die so wenig stimmt wie die Familiendetails.

Man kann nur den Kopf schütteln über die schlampige Recherche des als Dokumentarfilmers hoch gepriesenen Regisseurs Veiel. Der Film kommt morgen in die Kinos, und wer sich den öden Streifen unbedingt ansehen möchte, der sollte vorher lesen, was Gottfried Ensslin, der Bruder von Gudrun Ensslin, darüber schreibt. Was wir davon halten, haben wir ja schon gebloggt. Damit man sich wenigstens qualifiziert über den Film ärgern kann.

(BK / JS)

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Bernward Vesper war vollkommen anders

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Der Bär flattert in nördlicher Richtung.
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Leider können wir dem Impuls nicht nachgeben, die ignoranten und zuweilen kranken Elogen zu Veiels Film ›Wer, wenn nicht wir‹, einfach zu ignorieren. Denn als Herausgeber und Verleger von Bernward Vespers Romanessay ›Die Reise‹, den Peter Weiss einen »intellektuellen Höhepunkt der Bewegung des Jahres ’68« nannte, haben wir die Verantwortung das Lebensbild und das Werk von Bernward Vesper zu schützen. Heute hat uns der Autor, Komponist und Regisseur Ronald Steckel, ein Freund von Bernward Vesper und Autor in dessen Edition Voltaire, seinen Brief an Andres Veiel gemailt und uns gestattet, diesen hier zu bringen. Der Text spricht für sich selbst.

»Lieber Andres,

…noch ein kommentar zu Deinem film: als erstes gratuliere ich natürlich zu Deinem erfolg! mit dem ersten spielfilm gleich den Alfred-Bauer-Preis zu erringen, das ist wirklich bemerkenswert… mein eindruck war… anders – nicht so gut, ich verliess das kino sehr enttäuscht.Du hast Dir alle mühe gegeben, die zeit & die geschichten nachzuverfolgen, aber irgendwie ist es Dir – in meinen augen – nicht gelungen, das, was wirklich passiert ist, zu erzählen. vielleicht hat es damit zu tun: als wir miteinander sprachen, wusste ich nicht, dass Du das buch von Koenen verfilmen wolltest, das habe ich erst später von Jörg Schröder erfahren - hätte ich es gewusst, hätte ich Dir gesagt: don’t do it! Koenen ist ein renegat, der mann sieht nicht klar, seine darstellung von Vesper et al. entspricht nicht der realität etc. pp. -& wahrscheinlich hätte ich Dir auch gesagt: nimm DIE REISE! - einen besseren text gibt es in diesem zusammenhang nicht (dramaturgie!) – aber ok, es war Koenen – & das, was dabei herausgekommen ist - wie soll ich es sagen: Du hast NICHTS, aber auch GARNICHTS von dem einfangen können, was sich damals wirklich abgespielt hat. die figur Vesper in Deinem film GAB ES SO NICHT. Bernward war vollkommen anders – & da er in meinen augen die wichtigste figur dieser zeit war, ist das besonders traurig. ich erinnere mich, Dir in unserem gespräch mehrfach gesagt zu haben:  “der mann war gefährlich, provokant, unberechenbar, superintelligent, superproduktiv, aber kein angenehmer zeitgenosse, man musste immer auf der hut sein…” etc. & dann führst Du August Diehl, den ich sehr schätze, auf diese lyrisch-larmoyante bahn… das ist furchtbar… & es ist vor allem deswegen auch so schade, weil sehr viel zeit vergehen wird, bevor sich jemand in diesem grossen maßstab dieser zeit & dieser menschen wieder annehmen wird. ich habe viel darüber nachgedacht, wie Dir das passieren konnte -  Du hast ja mit vielen unserer generation gesprochen, hast die gesichter gesehen, die geschichten gehört… aber irgendwie reicht das nicht. das KLIMA der epoche, das unkontrollierbare fieber, das uns damals ergriffen hatte  & das diese ganzen schönen & schrecklichen eruptionen bewirkte - Du kennst es nicht & Du fühlst es nicht, Du hast es nicht in Deiner seele, es bleibt Dir verschlossen - & das gilt eigentlich für Deine ganze generation & die nachkommenden… es ist ein generationenproblem. das, was damals war, WAR NICHT HARMLOS, es war immer dicht an der grenze zum WAHNSINN, viele von uns, nicht nur Bernward, sind durchgedreht & umgekommen oder verstummt & erstickt - aber Dein film ist harmlos, brav, bieder, “eine laubsägearbeit”… & das hat mich heftig enttäuscht. gern hätte ich Dir anderes, begeistertes geschrieben, lieber Andres, wirklich gern – aber ich denke, Du wirst meine kritik & enttäuschung aushalten. ich muss es Dir einfach sagen, um mein unglücklichsein über Deinen film nicht weiter mit mir herumzutragen… ok, tant pis…
sei herzlich gegrüsst!
von
*R«

Wir haben immer noch die berechtigte Hoffnung: Der Veiel Film wird an der Kinokasse sterben. Langweilig genug ist er ja.

(RS / BK / JS)

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Kleist und Vesper

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Der Bär flattert in schwach in nördlicher Richtung.
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Zur Wirkungsgeschichte des Freitodes von Henriette Vogel und Heinrich von Kleist bringen wir heute eine Passage aus einer ›Schröder erzählt‹-Folge:


Der Wegweiser
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Warum beschäftigte sich 1998 plötzlich eine Bibliothekarin des Deutschen Literaturarchivs Marbach mit unserem Vorlass? Normalerweise sind doch Handschriftenabteilung und Bibliothek strikt getrennt. Weshalb wollte also Brigitte Raitz das ›Reise‹-Manuskripts in ihren feministischen Bestand aufnehmen? Diese Logik blieb uns verschlossen, bis wir die Lösung fanden: Brigitte Raitz wollte das ›Reise‹-Manuskript der Übergriff-Literatur zuschlagen. Denn um eine solche handelt es sich ihrer Meinung nach wohl bei den Liebesbriefen von Bernward Vesper an Ruth Ensslin.

Wer Vespers Romanessay gelesen hat, wird sich erinnern, dass auf den ersten Seiten der ›Reise‹ der Ich-Erzähler Bernward zu seinem Reisegefährten Burton sagt: »Do you know, I have lost my girl.« Die meisten Leser gehen vermutlich davon aus, dass er damit Gudrun Ensslin meinte. Das ist aber nicht so, vielmehr hatte Vesper, nachdem Gudrun ihn für Andreas Baader verlassen hatte, sich für sie nur noch als Mutter ihres gemeinsamen Sohnes Felix interessiert und als Genossin. Das zeigt seine flammende Rede beim Frankfurter Brandstifter-Prozess. Tatsächlich hatte Bernward sich inzwischen auf Ruth fixiert, die jüngste der Ensslin-Schwestern. Sie war zur Zeit der Niederschrift der ›Reise‹ gerade vierzehn Jahre alt.

Wer daran Anstoß nimmt, den erinnern wir an die lange Reihe literarischer Mädchenidole von Petrarcas Laura, über Novalis’ Sophie von Kühn, die mit fünfzehn Jahren starb, von Goethes ›Heideröslein‹, der Pfarrerstochter Friederike Brion aus Sesenheim bis zu Nabokovs ›Lolita‹. Bernward Vesper, ein homme de lettre durch und durch, hatte als Student in Tübingen einen Essay über Novalis geschrieben und plante eine Dissertation über das Thema. Er wußte also, dass der Freiherr von Hardenberg sich mit Sophie an ihrem dreizehnten Geburtstag verlobt hatte. Bernwards Liebe zur minderjährigen Ruth Ensslin war deshalb keine »wahnhafte Übertragung von Gudrun auf Ruth« wie Gerd Koenen es in seinem Buch ›Vesper Ensslin Baader‹ darstellt, sondern gehört ins weite Feld von Anziehung, Zärtlichkeit und Verwirrung und ist – wenn überhaupt – eine literarische Übertragung auf Novalis

Ruth Ensslin war zwölf und hatte angefangen Freud zu lesen, in einem Alter, in dem andere Teenager ›Emil und die Detektive‹ verschlangen. Als sie 1967 zu Besuch in Berlin war, erlebte sie die Anfänge der Trennung ihrer Schwester Gudrun von Bernward. Über diese Beziehungskonvulsionen schrieb Bernward zwei Jahre später an Ruth: »Erinnerst Du Dich an das Gespräch mit Andreas, Gudrun, Dir und mir am runden Tisch in der ›Dicken Wirtin‹, als sich die Parteien Gudrun-Andreas und Du-ich herstellten? Dann, nachdem WIR nächtelang geredet hatten … und dann eines Morgens-Mittags Du zu uns ans Bett kamst und ich dich festhielt und ins Bett zog …, ging Gudrun zu Andreas (und die Geschichte war ja so, dass Andreas von Gudrun erst gar nichts wissen wollte usw. Sie aber merkte, dass sie wegmusste). Es war vielleicht ganz gut, dass wir damals nicht miteinander geschlafen haben, weil das, was nachher und jetzt geschah, nämlich die psychische Aufarbeitung, das Aufbrechen bisher versteckter Komplexe usw. dann vielleicht unmöglich gewesen wäre. … Gudrun kann, auch für Dich, untergehen, zersetzt werden … seit sie entlassen ist, habe ich sie endgültig vergessen. Ich bin froh darüber, und sehr glücklich, dass es dich gibt, Carissima … Gestern Nacht waren wir am Kleistgrab …«

Tatsächlich sind Bernwards Briefe an Ruth nicht weniger outriert als andere Liebesbriefe. Und wenn Gerd Koenen sich verächtlich über Bernwards Anspielung auf Kleist auslässt: »Darum ging es in letzter Instanz: Herr Kleist suchte sein Fräulein Vogel«, dann sollte er besser Heinrich von Kleists Brief an Henriette Vogel einen Monat vor ihrem gemeinsamen Freitod am kleinen Wannsee lesen, dann bliebe ihm nämlich die Häme im Halse stecken. Hier ein kurzes Zitat: »Ach, Du bist mein zweites besseres Ich, meine Tugenden, meine Verdienste, meine Hoffnung, die Vergebung meiner Sünden, meine Zukunft und Seligkeit, o Himmelstöchterchen, mein Gotteskind, meine Fürsprecherin, mein Schutzengel, mein Cherubim und Seraph, wie lieb ich Dich!«


An dieser Stelle am Kleinen Wannsee nahmen sich Henriette Vogel und Heinrich von Kleist das Leben
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Um also diesen Selbstmord- und Übergriff-Spekulationen die Spitze abzubrechen: Bernward Vesper erschoss nicht seine Geliebte, sondern nahm sich selbst zwei Jahre später das Leben. Sein Romanessay beginnt mit der Erinnerung an diese Reise nach Dubrovnik, wohin er Ruth gefolgt war, die dort mit ihren Eltern Urlaub machte. Vorher hatte er ihren Vater Helmut Ensslin arrogant abgebürstet, der ihn telefonisch gebeten hatte, »die Hand von meiner minderjährigen Tochter zu nehmen.« Bernward schrieb ihm: »Menschen sind keine Maschinen, die man ab- und ausschalten kann, sie haben Bedürfnisse, die sich von Deinen unterscheiden und die Du nicht mit Gewalt und Einschüchterung unterdrücken kannst.« Dann fuhr er nach Dubrovnik, traf sich mit Ruth und versuchte mit ihr zu schlafen. Sie wollte nicht, vielleicht war ihr Bernward auch zu durchgedreht. Wie auch immer, aus der ›Reise‹ wissen wir, dass Vesper damals panisch aus Dubrovnik floh. An der Straße nach Rijeka las er den Hitchhiker Burton aus New York auf, dem er von seiner verlorenen Liebe erzählte. Burton kaufte ein Eis und einen Kaffee und sagte trocken: »Vierzehn ist zu jung. Sie haben eine andere Welt.«

Von dieser anderen Welt handelt das Marbacher Deponat der Ruth Ensslin-Frey, die inzwischen Mitte Fünfzig ist und als Psychotherapeutin arbeitet. Sie hat die Briefe von Bernward Vesper nach Marbach gegeben und Gerd Koenen erlaubt, daraus zu zitieren. Jedenfalls war es ein abwegiger Versuch der feministisch-fixieren Bibliothekarin, diesem kleinen Teil der Vesper-Welt das große Universum der ›Reise‹ zuzuschlagen; und damit das schlechthin gültige Buch über Bewusstsein und Entwicklung der deutschen Nachkriegsjugend, den Liebesbriefen an ein junges Mädchen unterzuordnen.

(BK / JS)

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Ihr habt es in der Hand (2)

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Es schneit, wir sehen nicht, wie der Bär flattert.
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Wenige Tage vor Mark Zuckerbergs Empörung über die Twitter-Managerin fanden wir bei Google ein Foto als Vorschaubild, das ich gemacht hatte, und darunter stand: »Bernward Vesper ist bei Facebook.« …

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Ihr habt es in der Hand (3)

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Die Fahne auf dem Schöneberger Rathaus fehlt immer noch.
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Mit dem Sperren von Accounts ist Facebook sonst nicht zimperlich. Wir fanden eine ganze Reihe von Beispielen, die belegen, dass der Konzern durchaus Beiträge entfernt, wenn er es für …

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Ihr habt es in der Hand (4)

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Die Fahne auf dem Schöneberger Rathaus fehlt immer noch.
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Bei der Facebook Ireland Limited handelt es sich um das inzwischen sattsam bekannte »Double Irish« Steuervermeidungsmodell, welches so auch Apple, Microsoft, Google und weitere Weltmarken nutzen. Der niedrige Steuersatz …

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Ihr habt es in der Hand (5)

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Die Fahne auf dem Schöneberger Rathaus fehlt immer noch.
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Hinter den Kulissen wird das Registergericht Facebook Beine gemacht haben, denn die GmbH meldete sich umgehend bei unserem Anwalt mit einem neuen Briefbogen, auf dessen Fuß nun die Geschäftsführer …

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Schreibrausch

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Der Bär flattert in westlicher Richtung.

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Während der Planung und Abfassung seines Romanessays ›Die Reise‹ in den Jahren 1969 bis 1971 notierte Bernward Vesper auch die psychoaktiven Drogen, die er während der Niederschrift des Manuskriptes nahm. Das Buch …

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Wir trauern um eine Freundin

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Der Bär flattert in nordöstlicher Richtung.
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Christiane Ensslin, Konfirmation März 1954. Das Foto entnahmen wir  dem Buch ›Zieht den Trennungsstrich, jede Minute‹ (s.u.)
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Christiane ist am 20. Januar in Köln mit 79 Jahren gestorben. Die Urnenbeisetzung findet zu einem späteren Zeitpunkt im engsten Familien- und Freundeskreis statt.

Zum ersten Mal hörte ich (JS) von Christiane, als sie 1977 für Franz Greno die Korrektur der Druckfahnen von Bernward Vespers Buch ›Die Reise‹ las, welches Greno für den MÄRZ Verlag herstellte. Etwa zur selben Zeit war Christiane Mitgründerin der EMMA, auf dem ersten Titelblatt schreiten vier entschlossene Frauen vorwärts.


v.l.n.r.: Christiane Ensslin, Alice Schwarzer, Angelika Wittlich und Sabine Schruff.

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Margarethe von Trottas Film ›Die bleierne Zeit‹ zeichnet das Leben der beiden Ensslin-Schwestern nach. Juliane (Christiane) ist aufmüpfig, Marianne (Gudrun)  eher still und angepaßt. Später läuft die Entwicklung  entgegengesetzt. Christiane verläßt das Elternhaus, macht eine Lehre als Vermessungstechnikerin, geht von Stuttgart nach Hannover und Goslar.

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v.l.n.r.: Christiane und Gudrun Ensslin

Gudrun lernte während ihres Studiums in Tübingen Bernward Vesper kennen. In Berlin verließ sie Bernward für Andreas Baader, ihr Weg in die RAF führte sie bis zu ihrem Tod in Stammheim. Während ihrer Haftzeit unterstützte Christiane  ihre Schwester solidarisch, davon künden Gudruns Briefe an die Schwester und den Bruder Gottfried. 2005 erschien im Konkret Literatur Verlag der Briefwechsel von Gudrun mit  ihrer Schwester Christiane und ihrem Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972-1973. Alles über das  Buch ›Zieht den Trennungsstrich, jede Minute‹ findet man hier.

Im Vorwort schreiben die beiden Herausgeber: »Die Frankfurter Kaufhausbrandstifter fallen wegen ihrer Verurteilung zu hohen Haftstrafen nicht unter die von der sozial-liberalen Regierung verkündeten Amnestie, die vielen Achtundsechzigern die Strafe für kleinere Demonstrationsvergehen erläßt und sie damit für den Reformismus zurückgewinnen will. Daß Andreas Baader und Gudrun Ensslin hier außen vor bleiben, war für sie ein Schlüsselerlebnis. Sie deuteten die Ächtung für sich als Ritterschlag, weil sie überzeugt waren, mit ihrer Militanz die Sollbruchstelle des Systems gefunden zu haben, welche die antiautoritäre Revolte vom revolutionären Kampf trennt.
Bei aller  Kritik an der RAF, die scheitern mußte, sollte der historische Kontext nicht unberücksichtigt bleiben: Anfang der  Siebziger Jahre herrschten in Spanien und Portugal Diktatoren, in Griechenland wütete eine faschistische Militärjunta, in Vietnam eskalierte der mörderische Krieg der USA, und 1973 wurde in Chile mit Unterstützung der USA eine demokratisch gewählte Linksregierung liquidiert. Dieser imperialistische Gesamtzusammenhang macht die Wut und den Haß derer verständlich, die dagegen eine antiimperialistische Front aufbauen wollten.« (Christiane Ensslin und Gottfried Ensslin, Januar 2005)

Christiane ging einen anderen Weg als Gudrun, sie engagierte sich für die Frauenemanzipation, arbeitete bei Franz Greno als Korrektorin, Lektorin und Herausgeberin (Das Buch zum Film: Rosa Luxemburg von Margarethe von Trotta), schrieb 1987 den Aufsatz ›Alle Kreter lügen‹ für die Anthologie ›Der blinde Fleck‹. Zu dieser Zeit lernte sie ihren Lebensgefährten, den Sozialwissenschaftler Klaus Jünschke kennen, der als ehemaliges RAF-Mitglied damals noch seine Haft verbüßte und ebenfalls einen Betrag im ›Blinden Fleck‹ schrieb.

Klaus Jünschke wurde bald darauf nach sechzehnjähriger Haft begnadigt. Später arbeitete Christiane im Verband der Filmarbeiterinnen und danach, von 1992 bis 2003, als Archivarin im Hamburger Institut für Sozialforschung.

Während dieser Zeit engagierte sie sich gemeinsam mit ihrer Freundin, der Journalistin Gita Ekberg in der Gefangenenarbeit von Santa Fu. 1993 erschien ihr ›Aktionshandbuch gegen Rassismus‹, und sie beförderte Hubertus Beckers Buch ›Die Niederlage der Gefängnisse‹.


v.l.n.r.: Jörg Hauenstein, Klaus Jünschke und  Christiane Ensslin. Foto: meaning media

Fast vierzig Jahre lang kümmerte sich Christiane um die Gefangenen: Sie ist Initiatorin des ›Komitees gegen Isolationshaft an politischen Gefangenen‹. Nachdem sie in Rente gegangen war, setzte sie die Gefangenenarbeit in Köln zusammen mit Klaus Jünschke fort und gründete den Verein ›Kölner Appell gegen Rassismus‹.

Ein Jahr lang sprach Klaus Jünschke mit zwanzig jugendlichen Strafgefangenen mit Migrationshintergrund in der Justizvollzugsanstalt Köln. Das Projekt des ›Kölner Appell gegen Rassismus‹ lief unter dem Titel ›Erzählwerkstatt‹. Christiane  transkribierte die Tonbänder und traf aus tausend Manuskkriptseiten eine Auswahl. Jörg Hauenstein wollte zunächst nur Fotos von der Innenarchitektur der Haftanstalt machen. Als er den Jugendlichen später die Bilder zeigte, wollten sie nun auch für das Buch fotografiert werden.

2007 stellten wir ›POP Shop‹ bereits in unserem tazblog vor:
1. Teil

und

2. Teil


Foto: Klaus Jünschke

 

In Abwandlung von Camus‘ letzten Sätzen im ›Mythos des Sisyphos‹ sagen wir: Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Christiane als einen fröhlichen und unbestechlichen Menschen vorstellen.«

Wir trauern um Christiane.
Barbara und Jörg

(CE / GE / BK / JS)

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